Lückentanz und Leerstellenartistik

Als direkte Folge der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 flüchteten 0,5% der tschechoslowakischen Bevölkerung in den Westen. Von den vier Geschwistern der Familie meiner Mutter emigrierten drei... Es waren vor allem junge Akademiker*innen und Nachkommen des vor- kommunistischen Bürgertums, die die finanziellen, ideellen oder imaginativen Möglichkeiten hatten zu emigrieren. Exil-Literatur und -Kunst ist voll ihrer Erfahrungen und Erinnerungen.

Doch ich suche nach den Geschichten der Gebliebenen. Wenn ich heute an die Situation meiner Tante – der Schwester meiner Mutter – zurückdenke, als wir sie in den 1980ern aus dem Westen besuchten, dann weiß ich nichts über sie. Der Fokus richtete sich auf meine emigrierten Eltern, ihre Erlebnisse, ihren Identitätsverlust, ihren Neuanfang.

Doch meine Tante blieb verstummt. Ihre Erfahrungen schienen grau im Vergleich zu unserem Farbfilm. Als gäbe es nichts zu erzählen, nichts Neues. Als wäre sie, die nicht emigriert war, schuld an der Gräue.

Was trat an die Stelle der Migrationslücken, die im gesellschaftlichen Gewebe entstanden sind? Was erlebten die, die geblieben waren? Fühlten sie die leeren Räume, die von den Verschwundenen übrigblieben? In ihrem Alltag einer wiedererstarkten Diktatur?
Oder frage ich zu sehr aus der Sicht meiner emigrierten Eltern? Schlossen sich die Leerstellen einfach? Und was trat dann an ihre Stelle?

Anhand meiner Familie will ich die Geschichten der Leerstellen suchen.
Ich will nach Erinnerungen der Gebliebenen fragen, untersuchen ob und wie sich ihre Geschichten performativ, artistisch erzählen lassen. Ich will mit meiner Tante sprechen, ihre Bewegungen um die Lücken herum herausspüren, ihrem Alltagstanz nachgehen. Ich will ihre Stimme in artistischer Bewegung laut werden lassen und performative Elemente darin finden, stellvertretend für die Stimmen all derer, die nicht geflohen sind.

 

Recherchevorhaben.
Idee, künstlerische Forschung: Jana Korb
Biographische Recherche mit: Hana Pánková, Viktor Pivovarov u.a.
Artistische Recherche: Jessica Walters, Hoppe Hoppinsky, Philipp Bauer
Historische Recherche: Alexander Korb

Text Fragmente Ausgangspunkte

– Erkennst du mich?
– Du erinnerst dich doch, bei mir in der Morosejka-Straße, wir tranken Tee und erinnerten uns an die Freunde, die so vergeblich weggefahren waren.
– Nun ja, ich hatte ein weißes Hemd und alte Jeans an.
– Aber das Gesicht, erinnerst du dich an mein Gesicht?
– Nein, du erinnerst dich nicht.
Viktor Pivovarov

Who can remember pain once it's over? All that remains of it is a shadow, not in the mind even, in the flesh. Pain marks you, but to deep to see. Out of sight, out of mind.
Margaret Atwood

"Die Natur duldet keine Leere." Aber man möchte hinzufügen, dass auch die Leere keine Natur duldet. Die Leere, um die es geht, ist keine neutrale, passive Grenze, nicht das bloße Nichts. Die Leere ist unglaublich aktiv. Ihre Aktivität ist mit der Aktivität der positiven Existenz identisch... Sie "lebt" mit derselben Kraft wie die Natur und verändert das Dasein in sein Gegenteil. Alles verwandelt sich in Staub und Leere...
Ilja Kabakov

Früher suchten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen? "Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen", sagte Manfred spöttisch.
Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? "Doch", sagte sie leise. "Der Himmel teilt sich zuallererst."
Christa Wolf

Es gab zu viel Lemberg, und jetzt gibt`s die Stadt
überhaupt nicht, sie wuchs unaufhaltsam, aber die Scheren
schnitten, die kalten Gärtner waren erbarmungslos
lieblos, wie immer im Mai,
ach wartet, bis der warme Juni kommt
und die weichen Farne, das endlose
Feld des Sommers, das heißt der Wirklichkeit.
Adam Zagajewski

Als ich Kind war, gab es das Ritual, dass wenn jemand die Sowjetunion verließ, am Abend bevor die Familie aufbrach, ihr Haus für alle offen stand. Die Ähnlichkeiten zum Abschied vone einem Toten waren verblüffend, gerade wegen der "Offenheit": Jeder, dessen Leben die Menschen berührt hatten, die nun gingen, konnte kommen und seinen Respekt bekunden. In einer totalitären Gesellschaft, in der die Menschen permanten darum kämpften, sich einen privaten Freiraum zu schaffen, war das der Moment, in dem die Privatheit endete – wie im Tod. Weil es riskant war, Kontakt zu jemandem zu haben, der im Begriff stand, das Mutterland zu verraten, war es außerdem ein Statement, eine solche Abschiedsparty zu besuchen, das weniger denen galt, die gingen, sondern vor allem denen, die zurückblieben. Auch in dieser Hinsicht glich es einem Begräbnis oder Gedenkgottesdienst. Die lieben Fortgegangenen machten jedoch weiter und versuchten, ihr neues Leben zu leben.
Masha Gessen

Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, sowie der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.